Deutschland ist auch meins

Von Yunus Ulusoy
Auch ich habe am 9. Juni 2024 gewählt, so wie ich es immer getan habe, seit ich in Deutschland wahlberechtigt bin.Seit 2002, dem Jahr meiner Einbürgerung. Neben dem demokratischen Mitspracherecht war mein zweites Hauptmotiv, Menschen wie mir, die familiäre Wurzeln außerhalb Deutschlands haben, am Wahllokal Sichtbarkeit zu verleihen.
Ich wollte für die alteingesessenen Deutschen sichtbar werden und ihnen zeigen, dass ich auch hier lebe und dass Deutschland auch meins ist.
Aufgewachsen mit Verletzungen – und mit Unterstützung
Um das sagen zu können, habe ich viele Jahre der inneren Auseinandersetzung gebraucht, denn ich bin mit inneren Verletzungen aufgewachsen. Als Neunjähriger kam ich 1973 mit meiner Mutter nach Herne zu meinem Vater, der 1963 als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen war. Der kleine Junge kam in ein Land, von dem er nichts wusste. Alles, was ihn ausmachte, wurde in Frage gestellt: Türke und Muslim zu sein, zählte hier nicht viel. Vorurteile, Scherze und Witze verletzten ihn und provozierten Trotzreaktionen.
Dank dieser Trotzreaktionen suchte ich mein Heil im schulischen Erfolg, um den Mitschüler*innen zu beweisen, dass ich es auch kann, sogar besser als sie. Die Migrationsbiografie holte mich immer wieder ein, sie wurde zur Berufung und später zum Beruf. 1992 durfte ich als Ausländer zum ersten Mal in Deutschland wählen und gewählt werden, und zwar für bzw. in den Ausländerbeirat in Herne. Wir wollten die Interessen einer Bevölkerungsgruppe vertreten, die für weite Teile des politischen Establishments uninteressant war, auch weil wir kein allgemeines Wahlrecht hatten.
Parallel zu den Verletzungen erfuhr ich aber auch Unterstützung von aufmerksamen Lehrer*innen und konnte dank Bafög mein Studium finanzieren. Mein Verhältnis zu Deutschland war also ambivalent, geprägt von tiefen Verletzungen aber auch Dankbarkeit. Mit der Zeit wurde Deutschland immer mehr ein Teil von mir, ohne mich wirklich zu akzeptieren. Ich musste lernen, die Wunden selbst zu heilen, die positiven Erfahrungen in den Vordergrund zu stellen und meinen inneren Frieden mit Deutschland zu finden. Diesem Schritt folgte 2002 die Einbürgerung.
Ausländerhass und „Wir sind kein Einwanderungsland“ als stetige Begleiter
Während meiner gesamten Sozialisation in Deutschland waren Menschen und politische Strömungen da, die Ausländer*innen-Hass propagierten. „Ausländer/Türken raus“-Rufe und Schmierereien begleiteten meinen Weg. Diejenigen, die solche Forderungen lauthals vorbrachten, sahen aus wie Nazis und verhielten sich auch so. Es waren Skinheads und andere, die zur „unbelehrbaren Minderheit“ gehörten, wie die politische Klasse und die gesellschaftliche Mitte Deutschlands sie nannten. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Rassismus und Diskriminierung fand daher nicht statt. Stattdessen versuchten weite Teile von Politik und Gesellschaft die Lebenslüge aufrechtzuerhalten, Deutschland sei - allen demographischen Realitäten zum Trotz - kein Einwanderungsland. Weder das Zuwanderungsgesetz von 2004 noch die heutige Realität, auf ausländische Fachkräfte angewiesen zu sein, konnten die Akzeptanz einer immer bunter werdenden Gesellschaft in allen Köpfen erreichen.
Was bedeutet das Wahlergebnis für mich und vor allem für junge Menschen der dritten und vierten Generation? Wir erfahren, dass ein erheblicher Teil unserer Mitmenschen und insbesondere der jungen Menschen eine Partei wählt, die in Teilen Remigrationspläne verfolgt und von den Verfassungsschützer*innen als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft wird. Ich erinnere mich an die Gastarbeiter*innen, die mir bei unserer Einbürgerungskampagne Ende der 90-er Jahre in Herne entgegneten: „Was wird aus uns, wenn wir uns einbürgern lassen und sie uns irgendwann nicht mehr wollen?“ Damals konnte ich antworten: „Ich bin kein Hellseher. Aber wenn man Deutschland mit der Türkei vergleicht, wo hat man mehr Gewissheit über die Zukunft?“ Dann verstummten sie. Die Ängste waren nicht verschwunden, aber sie wussten, dass Deutschland und seine Demokratie stabil sind.
Die gleiche Frage könnte ich heute nicht mehr so überzeugend und eindeutig beantworten. Denn Rechtspopulisten sind heute in allen westlichen Demokratien salonfähig geworden. Sie sind heute in allen sozialen Milieus der Gesellschaft vertreten. Beunruhigt mich das? Ja! Resigniere ich deshalb? Nein!
Ohne uns funktioniert diese Gesellschaft nicht mehr
Zwischen 2005 und 2023 ist die Zahl der Menschen ohne Migrationshintergrund, also die der autochthonen Deutschen, um rund 7,9 Millionen zurückgegangen. (2) Ohne Zuwanderung wären der Wohlstand Deutschlands und die Lebensqualität von uns allen bis heute nicht zu halten gewesen. Meine Generation, die geburtenstarken Jahrgänge, wird in den nächsten Jahren sukzessive in Rente gehen. Die Lücke, die hierdurch aufgerissen wird, bzw. der zusätzliche Bedarf, der dadurch im Renten-, Gesundheits- und Pflegesystem entsteht, werden ohne Zuwanderung nicht zu füllen bzw. zu decken sein.
Natürlich ist das Thema Migration nicht der einzige Grund für die Wahlerfolge der AfD und ähnlicher Strömungen anderswo in Europa. Über die weiteren Gründe mögen andere urteilen. Aber das Motiv: „Angst vor Migration“ betrifft meine Existenz. Doch ich bin nicht ängstlich, sondern wachsam und kämpferisch. Ich weiß, dass Migration und die Begegnung mit dem vermeintlich Fremden auch Befremden auslösen kann, insbesondere dann, wenn Migrant*innen - wie heute - anders als in den sechziger, siebziger Jahren in allen Lebensbereichen sichtbar sind und auch als Konkurrenz wahrgenommen werden.
Es gilt, sich an ihre Teilhaberechte und damit an ihre Sichtbarkeit zu gewöhnen, die Ambivalenzen gegenseitig zu überwinden, die Vorteile beidseitig zu entdecken und dieses Dasein zu akzeptieren, auch wenn von beiden Seiten da und dort Anpassungsschwierigkeiten im Zusammenleben entstehen sollte. (3) Diese gehören zu den Geburtswehen eines Landes, dessen Bevölkerungsstruktur immer internationaler wird. Eine sich als homogen verstehende deutsche Gesellschaft muss im Laufe eines Menschenlebens lernen, die Vielfalt in Gestalt der internationalen Bevölkerung von knapp 25 Millionen Menschen (4) als gesellschaftliche und wirtschaftliche Ressource und als Wettbewerbsvorteil unter den alternden und schrumpfenden westlichen Staaten zu begreifen. Wer mir mein Dasein in und meine Zughörigkeit zu diesem Land streitig macht, verleugnet, dass meine Familie 61 Jahre von 75 Jahren Deutschland aktiv mitgestaltet hat, andere aus der Türkei sogar 63 Jahre. Im Nachkriegsdeutschland waren wir nur zwölf Jahre nicht dabei. Die Italiener*innen sind sogar seit 1955 hier. Deshalb bekennen wir uns zu Deutschland: Es ist unser Land, unsere Heimat, unsere Vergangenheit und unsere Zukunft.
Meine Eltern, ich mit 51 Jahren Lebensgeschichte in Deutschland und andere aus der Generation meiner Eltern sowie meiner Generation haben zu Anfang keinerlei organisierte Integrationshilfe bekommen. Aber die erste Generation sollte in der Arbeitswelt funktionieren, sie hat funktioniert, meine Generation hat sich hier integriert, Immobilien erworben, Unternehmen gegründet und Nachwuchs gezeugt, sodass wir seit vier Generationen hier leben. Man stelle sich ein solches Szenario vor, alle Menschen mit Wurzeln außerhalb der EU würden nicht mehr hier sein. Von den rund 25 Millionen Menschen wären das 17,3 Millionen: die Wiedervereinigung wäre bevölkerungstechnisch obsolet geworden oder mein Bundesland NRW wäre nicht mehr da. Kein Mensch meiner Generation kann seine Altersvorsorge und kein Mensch der jüngeren Generationen den heutigen Wohlstand ohne diese Vielfalt in Zukunft sichern.
Wir werden mehr werden und für die Werte des Grundgesetzes streiten
Gegenwärtig gibt es mehr Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund als Wähler*innen der AfD, auch wenn unter den Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund einige für rechtspopulistisches Gedankengut empfänglich sein können. In den kommenden Jahren wird der Anteil der autochthonen Wähler*innenschaft kontinuierlich sinken und der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund - auch aufgrund des modernisierten Staatsangehörigkeitsrechts - weiter steigen. Diese bereits beschriebenen Geburtswehen sind Teil des Übergangs von der idealisierten homogenen Gesellschaft zu einer gesellschaftlichen Einheit in Vielfalt. Diesen Übergang müssen wir demokratisch, ohne politische Verwerfungen und auf der Grundlage der Werte des Grundgesetzes gestalten. Das ist eine Aufgabe für uns alle, besonders aber für meine deutschen Mitbürger*innen. Denn die Fundamente des Grundgesetzes können von den Zugewanderten nicht ernsthaft bedroht werden, dazu sind sie zu heterogen, zu unterschiedlich, und die allermeisten von ihnen, so wie ich, bezeichnen Deutschland auch und gerade wegen des Grundgesetzes als ihre Heimat.
Deshalb müssen wir für die Werte des Grundgesetzes, für eine freiheitliche und pluralistische Gesellschaft einstehen, dafür respektvoll streiten und Überzeugungsarbeit leisten. Neben dem Klimawandel ist das unsere größte Herausforderung!
Der Autor ist Programmleiter eines Instituts, dass sich besonders mit Fragen der Integration vor allem der Türkeistämmigen in Deutschland befasst.