Nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen - die Suche nach Lösungen entgleist

Der Mainstream in Politik und Medien ist sich weitgehend einig: Jetzt die Kernprobleme angehen - also Migration und Wirtschaft - um damit der AfD das Wasser abzugraben; in den (Ost-)Ländern soll die CDU mit dem demokratischen Rest plus BWS für stabile Regierungen sorgen, in der Bundesregierung sollen SPD und FDP diese ewig renitenten und elitären, abgehobenen Grünen deckeln, damit endlich wieder regiert werden kann; Scholz und Merz sollen sich beim Abschotten der Grenzen einigen.. und schon läuft der Laden wieder.
Der Osten tickt anders und - rechter
An diesem Tenor in Politik und Medien stimmt aber so ziemlich alles nicht und muss gerade gerückt werden: Erstens haben wir beim Vormarsch der Rechtspopulisten eindeutig Unterschiede in Ost und West. Im Osten begann er viel früher, spätestens mit Pegida 2014. Das ostdeutsche Parteiensystem blieb seit der Wende sehr schwach, nur wenige Menschen engagierten sich und die Bindung an die Parteien ist äußerst gering: Die meisten kommunalen Mandate im ländlichen Raum besetzt bis heute nicht die AfD, sondern die freiwillige Feuerwehr. Der Osten ist anders und wird und darf es auch bleiben, wie es der Soziologe Steffen Mau in seinem klugen Buch: "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt" (edition suhrkamp, Berlin 2024, 168 Seiten, 18 Euro) mit vielen guten Argumenten beschrieben hat.
Im Osten gibt es diese sich gegenseitig verstärkende Mischung aus jahrzehntelangen Mangelerfahrungen, Enttäuschungen, immer radikaleren Ideologieangeboten und einer Enthemmung gegenüber Gewalt. Hier ist Demokratie nie mehrheitlich internalisiert worden, hier denken viele, "die PolitikerInnen" seien alle korrupt und es gehöre ein starker Führer her, der "den ganzen Sauhaufen aufräumt". Hier können die Rechten an die Ostalgie anknüpfen, wonach früher angeblich alles besser war, jeder seine Arbeit und Auskommen hatte usw. Die Ostalgie dient als Schutzraum für gekränkte und verunsicherte Menschen. Und Medien und Politik bestärken diese in dem Gefühl, heute sei alles schlechter und unsicherer als zuvor.
Zweitens: Der Umbruch von 1991 und der Wegfall von mehr als der Hälfte der Arbeitsplätze sowie der mit ihnen verbundenen Infrastrukturen von der Kita bis zur Kantine - alles hing am Betrieb und ging mit ihm unter - hat die alte Nischensolidarität des Ostens zerschlagen und eine Gesellschaft der Einzelgänger geschaffen. Viele sind sich nur einig in ihrer Aversion gegen "die da oben" (d.h. die demokratische Politik) und "die Westler" (d.h. die neuen Eliten im Osten). Einen solidarischen Ansatz, wie er im Grundrecht auf Existenz (Bürgergeld) und auf Zuflucht (Asyl) steckt, lehnt man ab oder beschränkt ihn auf die "Einheimischen", wenn nicht gar auf "die Unseren" (das eigene Volk). Das dies nicht nur den Grundwerten unserer Verfassung widerspricht, sondern in einer weltweit verflochtenen Wirtschaft für eine Exportnation geradezu selbstmörderisch ist, wird nicht gesehen. Ebenso wenig gehör finden die Appelle der eigenen Unternehmen, dass sie ausländische Fachkräfte brauchen: "Sind ja nicht unsere Leute, die da Arbeit kriegen."
Drittens: Zwar ist ganz Deutschland eine überalternde Gesellschaft, in der die Neugier auf Anderes und Begeisterung für Innovation nicht eben überbordend ausgeprägt sind. Aber der Osten ist besonders überaltert, viele junge Leute sind hier längst abgewandert. Hier ist man noch rückwärtsgewandter und veränderungsskeptischer - und wählt daher rechts. Und man überhöht den Begriff der "Sicherheit" gegenüber dem der "Freiheit". Man will auch nichts wissen von einer Unterstützung derer, die auch für unsere Freiheit kämpfen, z.B. in der Ukraine. Mit dem brutalen Diktator an unseren Grenzen kann man eher leben als mit Gendersternchen und Klimaklebern und anderen Importen "westlicher Dekadenzkultur" vor der Haustüre. Hier verbinden sich uralte antiwestliche Stereotype der deutschen Rechten unheilvoll mit der DDR-Propaganda gegen den morbiden "US-amerikanischen Imperialismus".
Jahrzehntelange Vernachlässigung und ideologische Blockaden nutzen den Rechten
All dies - zusammen mit der inhaltlichen Selbstblockade der Ampel sowie der mangelnden Zukunftskommunikation des Kanzlers - lässt die "Alternativen" der AfD immer einfacher und die komplexeren Lösungen der Regierungsparteien in Bund und Ländern als bürokratisch und ideologisch aus der Berliner Blase an den Menschen vorbei geplant erscheinen.. Wie will man die unleugbaren Löcher in den Infrastrukturen - Busse und Bahnen, 5G und schnelles Internet, Ärzte und Kliniken, Kitas und Schulen usw. - jemals ausgleichen, so lange man auf der Einhaltung der Schuldenbremse beharrt? Dagegen hat sich die AfD im Osten als Kümmerpartei etabliert, die die Zurückgebliebenen - den "doofen Rest", wie diese sich oft in einer Art Selbsthaß tituliert haben - mehr oder weniger fürsorglich betreut.
Zugleich verschiebt die AfD die Grenzen des Sagbaren immer wieter nach rechts und prägt immer stärker den Mainstream in Politik und Medien, vor allem beim Thema Migration: Abweisung an den Grenzen, dauerhafte Grenzkontrollen und Verzicht auf "irreguläre Migration" - aber ohne weitere Chancen zu regulärer Migration, ohne Kontingente, Spurwechsel von Asyl- zu Erwerbsmigration, ohne ausreichende Sprachkurse und Therapieplätze usw. - das alles entspricht ziemlich genau dem, was die AfD bereits vor ihrer letzten Radikalisierungsphase gefordert hatte. Inzwischen geben Höcke und Co. den Ton an: Abschottung, Ausweisung, keine Gnade - und die Etablierten folgen ihnen mehr oder weniger hilflos oder bereitwillig nach. Dabei ist es unmöglich, das Jahrtausendphänomen Migration auf Dauer zu stoppen, wie auch unsere Nachbarn erfahren mussten. Zweitens wäre es für ein alterndes Land wie unseres ein schleichendes Todesurteil: wir haben es von allen seriösen Ökonomen schriftlich, dass das geringe Wachstum der letzten Jahre ALLEIN auf die Zuwanderung von Fach- und Hilfskräften sowie von Schutzsuchenden und Geflüchteten zurückgeht.
Klare Ansagen gefragt statt der Notlüge, es müsse sich nichts ändern
Und wer fragt danach, was das Abschotten mit unserer Demokratie macht, die sich immer mehr in eine Festung mit Aufpassern und misstrauischen Insassen verwandelt, wie Volker M. Heins und Frank Wolff in ihrem Buch: "Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft" gezeigt haben (edition suhrkamp, Berlin 2023, 197 Seiten, 18,50 Euro)? Und die Vorstellung, man könne durch das Kopieren rechter Parolen die Originale verkleinern, ist inzwischen x-mal theoretisch wie praktisch widerlegt worden. "Wen der Wandel stresst, der wählt rechtskonservativ", hat der Kommunikationspsychologe Tobias Rothmund von der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu Recht festgestellt (im gleichnamigen Interview mit Marie Rövekamp im Tagesspiegel von 2. September 2024). Da wir aber tatsächlich - wenn auch in Ost und West in untersciedlichem Maße - durch multiple Krisen gestresst sind, ist es eine völlig falsche Antwort der Ampel und des Kanzlers, den Deutschen einerseits eine "Zeitenwende" an den Kopf zu werfen und ihnen andererseits zu versichern, es werde sich für sie nichts ändern.
Wie Petra Pinzler schreibt, ist für Scholz der gegenwärtige Umbruch nur ein technisches Problem: "Gesellschaft verändern? Das gehört ins vergangene Jahrhundert. Bis heute hat Scholz daher weder eine partizipative Strategie der Transformation entwikelt, noch ausreichend Worte gefunden, um den Leuten die Angst vor dem Wandel zu nehmen" (Zitat aus: Offene Flanken der Ampel, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 9/2024, S. 12). Stattdessen säuselt er im Dauerton, es ändere sich nichts, während die Leute erleben, wie von der Bahnfahrt bis zur Wohnungssuche alles immer komplizierter, mühsamer und teurer wird. Das schafft Verdruss.
Was tun? Zuhören und zusammen Zukunft entwerfen
Was tun? Zuerst gilt es, die demokratische Zivilgesellschaft zu stärken und sich täglich klar gegen rechts zu positionieren, ohne alle Wähler der Rechten auszugrenzen. Letzteres hat Hillary Clinton getan und damit Donald Trump den Weg geebnet. Kamala Harris versucht es anders - und könnte siegen. Der Psychologe Stephan Grünewald formulierte dem Sinne nach: im jetzigen Durcheinander sind große Teile der WählerInnen bereit für eine demokratische Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede des Kanzlers, der dann aber konkrete Projekte folgen müssten. Und das Schaffen von Begegnungsräumen, in denen über positive Zukünfte zu reden wäre: Wie sieht eine weniger ungleiche Gesellschaft aus, statt hinter der Neidkampagne von BILD und Union zum Bürgergeld hinterherzuhecheln? Was heißen fossilfreie Wirtschaft und Gesellschaft, statt angeblich den Verbrenner oder die Ölheizung zu retten? Wie erfahren wir Diversität, Vielfalt als Bereicherung, statt Angstdiskurse zu befeuern? Und wie viel Hetze und Terror muss eine wehrhafte Demokratie gestatten, anstatt der AfD nach dem Maul zu regieren? Und über alledem steht die große Ehrlichmachung: Wie viele Milliarden Schulden MÜSSEN wir aufnehmen, um den Investitionsstau in allen öffentlichen Infrastrukturen, von Bildung über Digitalisierung bis Verkehr und Wohnen, aufzulösen? Das sind Prioritäten, mit denen sich die demokratischen Parteien den WählerInnen stellen müssen.