Mythen der Migrationsdebatte 2

"Die Grenzen sind nicht mehr sicher"
In einem weiteren Kapitel seines Bestsellers „Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 2023) untersucht der Migrationsforscher Hein de Haas die These: „Unsere Grenzen sind nicht mehr sicher“ (a. a. O. S. 47-63).
Der Mythos von den ‚unsicheren Grenzen‘ feiert derzeit fröhliche Urständ: Da „ist der Eindruck verbreitet, dass immer mehr Menschen den verzweifelten Versuch unternehmen, in den Westen zu gelangen, und dass sie dazu illegal über die Grenzen kommen“ (S. 47). Die Krisenerzählung wird laut de Haas „noch untermalt durch apokalyptische Schlagwörter wie „Völkerwanderung“, „Exodus“ oder „Flut.“ Besonders rechte Politiker von Johnson über Meloni bis Trump nutzen auch gern die Metapher von der “Invasion“: „Die Sorge, dass die Migration außer Kontrolle gerät, veranlasst viele Politiker zu der Forderung, die Grenzkontrollen zu verschärfen“ (S. 49). Passend hierzu verkündete der dem liberal-konservativen Lager zugerechnete polnische Premier dem erstaunten europäischen Publikum, er werde das Asylrecht in Polen „aussetzen“, da der Staat die Kontrolle über seine Grenzen zu sichern habe.
Allen derartigen Suggestionen widersprechen deutlich die Tatsachen: „Entgegen der verbreiteten Vorstellung macht sich die überwältigende Mehrheit der internationalen Migranten – auch derer, die vom Süden in den Norden wollen – vollkommen legal mit Pässen und Einreisegenehmigungen auf den Weg“ (S. 50). Zwar ist die illegale Einreise in USA häufiger als in Europa – hier betrug die illegale Zuwanderung 1990 bis 2020 immerhin rd. 23% der legalen – in Europa betrug diese für illegale, über das Mittelmeer kommende Migranten von 1997 bis 2020 jährlich rd. 64 400 Personen. Das entspricht 3 bis 3,5% der jährlich rd. 2 Millionen Migranten, die in der EU legal eintreffen (S. 51) – in immerhin eine Region mit über 400 Mio. Einwohnern (SG.).
Auch belegen alle Studien, dass diese Zahlen langfristig stabil sind: „Die meisten Zuwanderer kommen auf legalem Wege ins Land. Doch diese Menschen sind unsichtbar und finden keine Beachtung in den Medien. Sensationsheischende Berichterstattung und populistische Parolen übertreiben das wahre Ausmaß des Problems“ (S. 53/54).
Dies trifft auch auf unsere aktuelle Lage zu: Während sich ganz Europa einiegelt und zunehmend zur Festung macht, und in Deutschland „Migration, Migration, Migration“ nicht nur vom CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann als die ‚drei wichtigsten Probleme‘ gehandelt wird (SG.), ist in Wahrheit die Zahl der Asylanträge von Anfang 2024 bis Ende September 2024 in der EU um 8% und in Deutschland um ganze 23% auf inzwischen nur noch 170 000 zurückgegangen. Während das Problem sich deutlich verkleinert hat, haben Medien und Parteien – aus Angst vor der AfD und ihren Wutbürgern*innen – das Thema künstlich aufgebläht: Es verzeichnete binnen weniger Monate einen statistisch messbaren Zuwachs an Aufmerksamkeit von 8% auf 47% – womit es zum aktuell wichtigsten Thema überhaupt avanciert ist. Dass dies nichts mit den tatsächlichen Zahlen zu tun hat, konnte der Kommunikationsforscher Christian Stöcker in Spiegel Online zweifelsfrei belegen: Es handelte bzw. handelt sich hier vielmehr um höchst absichtsvolles Agendasetting im Vorfeld dreier Landtagswahlen, welches die etablierten Parteien nur allzu gern nach- und mitvollzogen haben: Mit dem erwartbaren Ergebnis, dass die Menschen im Osten die ausländerablehnenden Originale AfD und BSW gewählt haben – und die anderen Parteien zunehmend dahingehend diskutieren bzw. argumentieren, sie seien eben noch nicht ausländerkritisch, migrationsskeptisch usw. genug. (vergl. hierzu Stöckers Artikel vom 13.10.2024)
Nun sind auch die meisten illegalen Zuwanderer aus dem Süden nicht überall so unerwünscht wie in Medien und Politik, „sondern ein Produkt der konzertierten Bemühungen von Behörden und Unternehmen zur Anwerbung von Arbeitsmigranten… Wenigen Europäern oder Amerikanern ist klar, dass die Anwesenheit von Latinos in den USA, Kariben und Südasiaten in UK oder Nord- und Westafrikanern und Türken in Europa auf die aktive Anwerbung von Arbeitskräften zurückgeht“ (S. 55). In Folge der Auflösung der Kolonialreiche gab es in den 50er und 60er Jahren eine spürbare Migration aus den armen Ex-Kolonien in die wohlhabenden „Mutterländer... Während des Wirtschaftswunders… suchten Industrie und Bergbau händeringend nach Arbeitskräften. Die Folge davon war die groß angelegte Anwerbung aus dem Ausland“ (ebda.) „Europa, vor allem Frankreich und UK, nutzte die seit der Kolonialzeit bestehenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Bande, um nach dem Zweiten Weltkrieg Arbeitsmigranten zu rekrutieren“ (S. 57). „In den (krisenhaften, SG) 1970er Jahren stellten westeuropäische Länder und die USA die aktive Anwerbung von Arbeitskräften ein, in den 1980ern verhängten sie vielfach Einreisebeschränkungen, um den Zuzug zu begrenzen… Das verhinderte die Migration jedoch nicht, denn die Nachfrage nach Arbeitskräften blieb unvermindert hoch, vor allem, als in den 1990ern die Konjunktur wiederanzog (S. 59). „In den 1990er und 2000er Jahren wurden mittel- und osteuropäische Länder zu den Hauptlieferanten von Arbeitskräften für Westeuropa“ (in Deutschland zunächst hauptsächlich Polen, inzwischen und künftig auch Ukrainer, SG), „die Verschärfung der Arbeitsbedingungen begünstigte auch die illegale Zuwanderung“ (ebda.).
Das eigentliche Problem, so de Haan in Einklang mit allen seriösen Migrationsforschern, „ist nicht, dass die Grenzen nicht gesichert (sind), sondern dass das Zuwanderungssystem nicht funktioniert und trotz der großen Nachfrage nach Arbeitskräften keine geeigneten legalen Möglichkeiten bietet“ (S. 60) – oder glaubt irgend jemand, die illegalen Latinos gingen nach USA, wenn sie dort wirklich keine Arbeit fänden? Oder die Afrikaner nach Spanien oder Italien, wenn sie dort nicht mit Kusshand von der Agrarmafia beschäftigt würden, natürlich gern zu ausbeuterischen Dumpinglöhnen?
Entsprechend gilt „Die wichtigste Feststellung ist jedoch, dass die Zuwanderung nichts ist, „was über uns hereinbricht“, sondern dass sie durch die Anwerbung von Arbeitsmigranten durch Behörden und Unternehmen zustande kommt, auch wenn diese Arbeitnehmer offiziell als „nicht erwünscht“ deklariert werden“ (S. 61). Und ebenso klar ist: „Das Gerede von einer „Invasion“ ist nichts als politische Propaganda, die gezielt Angst und Panik schüren will“ (ebda.).
Warum thematisieren unsere Medien dies alles nicht in angemessener Weise, warum wird dieses Thema so hochgeschrieben, der Klimawandel hingegen, der uns wirklich bedroht, derart vernachlässigt? Anders als auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex (der inzwischen die Begleitung sog. illegaler Pushbacks nachgewiesen werden konnte, SG.) auf ihren Karten zeigt, ist „illegale Zuwanderung keine Invasion, weder in ihrer Form noch in ihrem Ausmaß. Migranten und Geflüchtete kommen nicht mit Kriegsschiffen und Kampfjets und haben nicht die Absicht, Regierungen zu stürzen“ (S. 62). Dass Diktatoren wie Lukaschenka und Putin zynisch Flüchtlinge nutzen, um europäische Staaten zu destabilisieren, steht auf einem anderen Blatt. „Es gibt auch keine Völkerwanderung von illegalen Migranten aus dem Globalen Süden in den Norden. Diese Mythen dienen nur dazu, die Zuwanderung als feindlichen Eroberungsfeldzug und als Gefahr für unsere Wirtschaft, Sicherheit und Identität darzustellen. (Wie bereits deutlich wurde, hat aber insbesondere die Wirtschaft die Migranten gerufen, SG). Doch diese Ängste sind reine Phantasie. Es gibt keinen Grund zur Panik“ (S. 63) Außer man will gleichermaßen Panik verbreiten wie rechte Medien und rechtspopulistische bis -extreme Politiker(SG.).